Was klassische Sportarten vom E-Sport lernen könnten

Ich bin auf einen äußerst interessanten Vortrag bei der Digitalkonferenz re:publica in Berlin gestoßen. Er beschäftigte sich mit einer großen Frage: Wie lassen sich digitale Konzepte von E-Sport und Lifestyle-orientierten Trendsportarten auf klassische Vereinssportarten übertragen? Das Ziel: Den Mitgliederschwund bei den olympischen Sportarten wie Leichtathletik oder Schwimmen stoppen, indem vor allem jüngeren Menschen Anreize gegeben werden und die klassischen Sportarten wieder spannender werden. Wie? Ein Paradigmenwechsel muss her.

LaufgeisterZunächst die Info, von wem die nachfolgenden Ideen kommen. Die beiden Referenten: Jens Behler, Ressortleiter Digitale Kommunikation beim Deutschen Olympischen Sportbund und Thilo Specht, freier Agent für Strategie und Konzept. Nach eigener Aussage haben die beiden über Monate die Köpfe zusammengesteckt, um sich dem Problem der klassischen Sportarten und einer möglichen Lösung zu nähern.

Dabei machten sie zwei große Herausforderungen aus. Herausforderung 1: Sportangebote ohne zeitgemäßes kulturelles Setting werden für Millenials zunehmend unattraktiv. Sportlicher Wettkampf ohne Raum für Selbstdarstellung verliert gegen bildstarke informelle (also nicht Vereinssportarten) Sportarten. Zwei Sätze, die verarbeitet werden müssen.

Was damit gemeint ist: Der Fußball zum Beispiel schafft ein zeitgemäßes kulturelles Setting, indem die Klubs und Verbände zusammen mit Sportartikel-Herstellern wie etwa Adidas oder Nike für eine Lifestyle-orientierte Einbettung sorgen. War in den 80er-Jahren Fußballkleidung und deren Hersteller noch zu 100 Prozent auf Funktionalität aus, so sind die Hersteller und damit auch der Fußball immer mehr in Richtung Fashion und Lifestyle gegangen. Das sieht man am besten bei den unzähligen TV-Werbespots, die alle zwei Jahre zu den großen Fußballturnieren ausgestrahlt werden. Da geht es nie um Funktionalität, sondern immer nur um Image, Coolness und Lifestyle.

Die Fußballer wurden in den vergangenen Dekaden immer mehr zu Lifestyle- und Mode-Ikonen. Es wurde ihnen immer mehr Raum zur Selbstdarstellung eingeräumt, nein, sie wurden dahin geschoben. Manche wie etwa Cristiano Ronaldo oder Jerome Boateng wissen diese Möglichkeiten besonders gut zu nutzen. Für Kinder und Jugendliche hat Fußball auch deswegen seinen Reiz; nicht allein wegen des Sports, sondern weil der Fußball im Zentrum des lifestyle-orientierten Zeitgeists zu stehen scheint. Und ohne gute Selbstdarstellung der Athleten kommt eine Sportart heutzutage weit weniger in den Medien vor als mit einer geschickten Kommunikationsstrategie und Sich-in-Szene-Setzen.

Behler und Specht haben weitere Aspekte ausgemacht, bei denen klassische Sportarten dazulernen können. Zu der Frage, was der E-Sport besser macht, antworten sie: Ich kann sofort mitmachen. Ohne Hürden. Im klassischen Sport müsse man viel mehr auf sich nehmen, um an die Spitze zu kommen.

An diesem Punkt mag ich nicht ganz mitgehen. Schließlich ist es alles andere als einfach, sich zu einem Titel im E-Sport zu zocken, auch wenn es Außenstehende als keine große Kunst wahrnehmen könnten, ein Videospiel zu spielen. Dennoch mag es stimmen, dass die Leistungsdichte (noch?) nicht so groß ist wie in olympischen Sportarten wie Schwimmen oder Leichtathletik. Und die Zeitspanne, um sich an die Spitze zu trainieren, größer ist als im E-Sport und auch das notwendige Talent mehr vorhanden sein muss. Mir sind dazu aber keine Studien bekannt, daher ist das nur eine Mutmaßung.

Für Behler und Specht ist das Ligensystem im E-Sport durchlässiger als im klassischen Sport, wo ein Aufstieg (etwa im Fußball) nur im Ein-Jahres-Rhythmus möglich ist. Das ist beim E-Sport tatsächlich schneller möglich. Wer Spiele gewinnt, kann innerhalb kürzester Zeit in die Weltspitze stoßen und um Weltmeistertitel kämpfen. Ferner berichten laut den beiden Referenten im E-Sport beziehungsweise kommentieren die Spieler selbst beim Spielen. Live. Im klassischen Sport gebe es diese First-Person-Emotionalität nicht. Auch die Sprache sei anders als bei einem klassischen Fußballkommentator. Viel näher dran am ebenso jungen Publikum.

Herausforderung 2: Der organisierte Sport sei stark reglementiert durch gewachsene Vereins- und Verbändestruktur. Deshalb habe sich sein Charakter in den vergangenen Jahrzehnten kaum verändert. E-Sport habe hingegen atmende, sich beständig ändernde Angebote, die auf Neugier und Spaß setzen. Wie schafft es der organisierte Sport, fragen Behler und Specht, offenen und selbst organisierten Formen des Wettbewerbs Raum zu geben, um für junge Menschen interessant zu bleiben? Dass also die Sportler selbst unter dem Dach des Vereins neue Wettbewerbe „instant“ kreieren, ohne dass sich das durch Regularien lange hinzieht mit der Umsetzung. Bisher werde nur geschaut wie die klassischen Sportarten für das TV attraktiver werden. Durch kürzere Wettkämpfe zum Beispiel. Man müsse aber schauen, wie es attraktiver für die Spieler werden kann.

Und jetzt kommt er, der Lösungsansatz: Gamification mit Physical E-Sports. Also Sport & Fitness + Mobile Games. Das Konzept: Ein Algorithmus/ KI ermöglicht universelle Vergleichbarkeit von einzelnen sportlichen Aktivitäten – Alter und Geschlecht werden nivelliert. Die TU München entwickelt gerade einen entsprechenden Algorithmus. Eine App dazu soll Ende 2018 veröffentlicht werden. Mit ihr soll dann eine Umrechnung von Workouts in Werte für Stamina, Speed, Strength, Skill möglich sein. Das Ganze soll dann in ein einzigartiges, weiterführendes Gameplay eingebettet werden. Konkreteres wird es dann wohl erst noch geben, wenn es in der Praxis umsetzbar ist.

Die Grundidee ist aber wirklich ein Pardigmenwechsel. Es soll nach den Vorstellungen von Behler und Specht für die meisten Menschen in den klassischen Sportarten wie Schwimmen oder Leichtathletik nicht mehr darum gehen, wer es höher, schneller oder weiter schafft. Zeiten und Weiten sollen also nicht mehr im Zentrum stehen. Möglich soll das mit Gamification sein.

Als Beispiel könnte eine spielerische Aufgabe wie folgt aussehen: Im Single-Player-Modus: Laufe 10 Kilometer mit einer Geschwindigkeit unter 5:50 min/km. Schwimme 50 Meter in weniger als 90 Sekunden. Dazu kommen dann die Ansätze aus dem E-Sport: Verbessere deinen Leistungswert. Erhalte 150 Erfahrungspunkte als Belohnung (es gibt einen erkennbaren Fortschritt). Erreiche das nächste Level. Sichere die einen exklusiven Badge. Und im Multiplayer-Modus: Laufe 10 Kilometer schneller als deine Gegner. Schwimme 50 Meter schneller als deine Gegner. Hole dir den Sieger-Badge. Verbessere den Rang in der Liga. Erhalte 500 Erfahrungspunkte für den Sieg. Und sichere dir (zum Beispiel) die Startberechtigung für den Hamburg Marathon.

Sicher, das Alles ist noch etwas kryptisch und wenig greifbar. Und die Grundidee ist meines Erachtens auch riskant revolutionär, sodass das Ganze eventuell für zu viele Menschen einen zu harten Umdenkprozess erfordert. Und daran scheitern könnte. Man wird es sehen. Sofern es mit der App und dem Algorithmus klappt. Letztlich könnte so zumindest das Sportabzeichen modernisiert werden. Das wäre ja auch schon etwas.

Bildquelle: ©M.E./PIXELIO

 

 

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Eine Antwort auf “Was klassische Sportarten vom E-Sport lernen könnten”

  1. Thilo sagte:

    Hallo Tobias,

    die App ist mittlerweile am Start – als Open Beta im Apple App Store: https://apps.apple.com/de/app/spoaz-play-your-workout/id1437880863

    Es handelt sich um ein MVP mit minimaler Funktionalität, viele Features kommen noch. Wenn Du Fragen hast, melde Dich gerne bei mir oder Jens. :-)

    Viele Grüße und vielen Dank für die ausführliche Besprechung unserer Session
    Thilo

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